Vor einigen Wochen ist ein neues Buch von Andreas Maier
erschienen. Das Buch trägt den
erstaunlichen Titel „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“ und so dreht sich in diesem Buch
scheinbar und warum auch immer (fast alles) um Udo Jürgens. Da Andreas Maier
ein sehr heimatverbundener Autor ist, der in der Wetterau geboren wurde, eine
enge Anbindung an Frankfurt, den Apfelwein und die Frankfurter Eintracht hat,
geht es in dem Buch auch um: Frankfurt, den Apfelwein und die Frankfurter
Eintracht. „Erst in Frankfurt beginnt das
Leben richtig weh zu tun.“ Wer wollte ihm da widersprechen?
Ich will keine falschen Hoffnungen wecken. „Mein Jahr ohne
Udo Jürgens“ ist beileibe kein Buch über die Eintracht, sondern, ja was
eigentlich: Ein Blick auf die Welt? Eine poststrukturalistische Auseinandersetzung
mit dem laufenden Schwachsinn? Eine ernsthafte, sozialphilosophische Einordnung
des Werks und des Wirken von Udo Jürgens?
Was auch immer es ist, die Eintracht spielt – wie das eben so ist, wenn man mit
der Eintracht lebt - eine gewisse Rolle, auch dann, wenn sie keine Rolle
spielt. „Irgendetwas Konstantes, immer Vorausgesetztes,
eine ‚Art Präsupposition. Mein Leben ging stets davon aus, dass es Udo Jürgens
gibt…“ Und vielleicht ist es bei Andreas Maier (wie bei mir) mit der Eintracht
ja so ähnlich.
„Eintracht Frankfurt ist ein Verein, über den man nicht
viele Worte verlieren muss. Er ist nicht gerade besonders beliebt. Und es gab
eine Zeit, da waren wir nicht nur ans Siegen, sondern teils auch ans bloße
Toreschießen nicht mehr gewöhnt. Ja, vor ein paar Jahren gab es diese Zeit, da
saß ich m Stadion, es fiel ein Tor, und ich überlegte, wann eigentlich dieser
Verein zum letzten Mal ein Tor erzielt hatte. Manchmal fiel es mir gar nicht
mehr ein.“ Das sind Sätze von überzeitlicher Wahrheit.
Im vergangenen Jahr, kurz vor Weihnachten, am 21.12., ist
Udo Jürgens gestorben – Udo Jürgens, von dem wir uns – so Maier - nicht
vorstellen konnten, dass in seinem Leben die Möglichkeit des Sterbens überhaupt
vorgesehen war. Sterben? „Das hätte ihm
noch am Tag vorher keiner zugetraut.“ Er
fiel bei einem Spaziergang um und war tot. Ohne Alt zu werden, „ist Udo Jürgens mit 80 Jahren dem Altern von
der Schippe gesprungen. „
Andreas Maier hat
über sein „Jahr ohne Udo Jürgens“ im vergangenen Jahr regelmäßig im
Online-Logbuch des Suhrkamp-Verlages berichtet, der jetzt vorgelegte Band fasst
die Kolumnen zusammen. Vergnüglich, schräg, bitterböse. Und am Ende fragt man sich, ob es vielleicht doch
eine gute Idee wäre, sich – trotz „Buenas Dias, Argentina-Schock“ - eine Udo Jürgens-Platte zu kaufen. (Ach nein,
lieber doch nicht).
Bei der Lektüre von Andreas Maier kann man (wenn man es nicht ohnehin bereits entdeckt hat) lernen: Mit einem geeigneten Referenzpunkt sortiert sich
das scheinbar Beliebige zum Blick auf Welt. Jedes konkrete Detail kann scheinen, wenn es einen Raum hat, in dem es da sein und Bedeutung gewinnen kann. Vom
Hibbesje zum Dibbesje im scheinbar Peripheren das Allgemeine und Besondere
entdecken. Einfach an einem ganz
bestimmten Punkt anfangen und der Rest gruppiert sich von selbst. Ungefähr so
wie es dem blinden Maulwurf in Janoschs „Weihnachtsbär“-Geschichten geht, als
er sich mit dem Weihnachtsbär eine Schneeballschlacht liefert. Er sieht nichts
– „und trifft nichts und alles.“
Mit der Welt ist es so eine Sache. Sie ist gar nicht so
einfach verstehen. Wenn man nicht aufpasst, geht sie einem verloren, kaum dass
man es sich versieht. Andreas Maier beschreibt Udo Jürgens als „Narrativ“, als
Zugriff auf die Welt: „Du kannst jedes thematische Gewicht an ihn hängen, er trägt
und macht es leicht. Du kannst durch ihn hindurch auf die Welt zugreifen.“ Das
wiederum hat Udo Jürgens mit Andreas Maiers Onkel J. gemeinsam (über den hat er
auch ein Buch geschrieben): „Mein Onkel J. war geburtsbehindert und Udo Jürgens
war weltberühmt. Das kann man ja mal zusammendenken.“ Ebenso kann man auch mit
Orten und Zeitebenen verfahren Früher. Heute. Abschweifungen. Beobachtungen.
Neulich. Eine erstaunliche Mischung aus
Details und großen und kleinen Gedanken: z. B. über das Altern, das Problem der
Vollständigkeit, über Franz Schubert, die Sehnsucht bei Arnold Stadler, über Thomas Mann, die Weihnachtszeit in Frankfurt („Kurz gesagt, Weihnachten ist eine üble,
gefährliche Zeit…“) und Todesnachrichten per SMS („Immer wenn jemand stirbt,
brummt es in meiner Tasche.“)
Als Leser erfährt man mancherlei Überraschendes, z. B. dass am 27. Mai
1972 die erste Raumschiff-Enterprise-Folge im deutschen Fernsehen lief ("ein
Samstag, aber es war keine Bundesliga"). Zwei Wochen vor dem Erscheinen des
1000. Perry Rhodan-Heftchens wurde John Lennon erschossen. Was mich (also: rotundschwarz) daran
erinnert, dass ich – es muss Ende Januar 1995 gewesen sein – in Rüsselsheim,
Höhe Berliner Straße, einen Autofahrer, der neben mir an der Ampel stand und
mich nach dem Weg fragte, aus Versehen in die falsche Richtung geschickt habe.
Eine Geschichte, die mich heute noch ab und zu quält. Ehrlich.
Um was geht es eigentlich in Liedern wie „Merci, Cherie“ ?
Maier interpretiert es in drei Kapiteln
auf knapp 30 Seiten. Zwischenfazit nach dem ersten Drittel: „A verlässt
französisch genanntes B, Gründe wissen wir noch nicht, aber wir haben eine
Kontextualisierung, die irgendwo zwischen romantischem Wanderermotiv und der
Welt militärischer Order changiert, und in der Mitte passiert eine ganz
gewaltige Entladung.“ Also: Ich höre dieses Lied jetzt anders und mit mehr Verstand.
Und woran erkennt man in der Straßenbahn die Menschen, die
zu einem Motörhead-Konzert gehen? Richtig:
An ihren T-Shirts, vielleicht auch an ihrem grimmigen Blick. (Leicht
verschämt sehe ich mich - bekennenderweise - im Dylan-Shirt in Essen, Straßburg oder Berlin in der
S-Bahn stehen, Blick: verklärt). Aber woran erkennt man Menschen, die (wie Andreas Maier zum letzten Mal wenige Wochen bevor Udo Jürgens starb )
zu einem Udo Jürgens-Konzert gehen (gingen)? Man erkennt sie an: Nichts. Und genau
darin besteht – wenn ich es richtig verstanden habe - der Schlüssel zur „radikalen Emotionalität“, Udo Jürgens bezieht sich auf nichts als auf sich selbst. Das Nichts ist einfach
nichts, nicht einmal ein Lebensgefühl, während überall sonst auf der Welt sich
alles zu diesem oder jenem bekennt: „So scheidet sich alles stets in Parteien,
auf jeder Gesellschafts- und Zivilisationsebene und durch alle Zeiten hindurch.
Von Christen und Muslimen über Wagnerianer und Brahmsianer bis hin zu, sagen
wir, Frankfurtern und Offenbachern.“
Auch der Apfelwein ist ein Kontinuitätsmoment im Buch und –
wie Maier-Leser spätestens seit den „Apfelweinengeln“ wissen – auch im Leben
von Andreas Maier. „Es ist nun mal sehr wärmend, auch innerlich, in der
Dezemberzeit in Frankfurt in den diversen Apfelweinwirtschaften herumzustehen,
von allen Beteiligten geht ein Leuchten aus, ähnlich wie jenes, das zeitgleich
vom Apfelwein in den Schoppengläsern ausgeht.“ Im Gemalten Haus, bei Wagner in den drei Steubern, auf dem
Weihnachtsmarkt, an der Konstablerwache beim Odenwälder Sonnenhof, im Hof der Buchscheer beim Adventsgrillen,
bei Jens Becker in der Apfelweinhandlung
in der Brückenstraße. Oder hier oder da. Bisher wusste ich (= rotundschwarz) noch nicht, dass man Apfelwein mit
Sekt spritzen kann (aber es offensichtlich lieber bleiben lassen sollte). Die
verheerende Wirkung des schwäbischen Mostes (Apfel und Birnen) und dessen
Nicht-Kompatibilität mit hessischen Köpfen und Mägen ist mir dagegen
wohlbekannt.
In Hamburg, wohin es Andreas Maier inzwischen verschlagen hat, hat er auf seiner Anrichte sieben Bembel stehen,
kennt in Hamburg aber nur drei Menschen. „Es gibt in meinem Leben also mehr Bembel als Menschen. So weit ist es
gekommen.“ (Einer davon - der Menschen,
nicht der Bembel - verkauft in Hamburg Apfelwein, ist gebürtiger Frankfurter
und Eintrachtler. Logisch).
Bevor ihr – vielleicht an Weihnachten – einen Blick in das
Buch von Andreas Maier werft, solltet ihr unbedingt nochmal ins Waldstadion
gehen. Letzte Gelegenheit für dieses Jahr: Das hochhochhochwichtige letzte
Heimspiel der Vorrunde gegen Werder Bremen.
Ungefähr so könnte sich das dann anfühlen:
„Eines Tages, vor Jahren (...), saß ich im Stadion, wie immer leicht nach vorn gebeugt und
nichts Gutes ahnend. Eine nervöse
Kutschbockhaltung – eine Haltung, in der wir alle mit den Jahren zu alten,
nervösen, schlecht gelaunten Männern geworden sind. Man könnte uns malen, wie
wir da sitzen.“
Und wie ist es, wenn dann ein Tor fällt? So:
„Man sitzt, übel gelaunt, Kutschbockhaltung, plötzlich ein
Angriff aus dem Nichts. Ball im Netz, alles springt auf, jubelt, klatscht sich
ab, anschließend sitzt man wieder, noch ängstlicher als zuvor.“
Und vielleicht deshalb hätte Udo Jürgens nach Meiers Einschätzung mit „Merci, Cherie“ (wie ich vermute) eigentlich auch einer (französischen?) Flasche Bier oder der Eintracht ein Denkmal setzen können, dann
allerdings umgekehrt: „Schau nie nach
vorn, nur zurück – zwingen kann man kein Glück.“
Vielleicht ja doch.
Alle kursiv gesetzten Zitate aus: Andreas Maier: Mein Jahr ohne Udo Jürgens, Suhrkamp Berlin
2015
Mehr Maier:
Es gibt einen Link Udo Jürgens-Eintracht Frankfurt: Der Udo Jürgens bürgerlich Bockelmann) ist der Neffe des Frankfurter Oberbürgermeisters Werner Bockelmann, der 1959 im Meisterjahr amtierte. Alles hängt mit Allem zusammen.
AntwortenLöschenOh - was für ein feines Detail, und dann auch noch 1959 :) Ob Andreas Maier das weiß? Im Buch steht es jedenfalls nicht (falls ich es nicht überlesen habe...)
AntwortenLöschenGibt es da nicht so eine Theorie, dass alles mit jedem über maximal sieben Schritte in Verbindung steht?
Udo Jürgens hatte bei mir nie eine Chance, denn ich liebte zu jener Zeit neben Perry Rhodan, James Last, den Peanuts und C.G. Jung nur noch Nini Rosso mit 'Il silenzio'. Daher kann ich mich zum Thema hier auch nicht weiter äußern.
AntwortenLöschenObwohl die wohl schon einmal erwähnte Tatsache, dass Franz Schubert auf seinem Totenbett begierig den 'Lederstrumpf' las (und es brummte dazu in niemandes Tasche), das hier hier Gesagte brutalstknappmöglich zusammenfasst. Zusammenfassen könnte. Vielleicht.
Und nochwas. Am Altwerden nage ich eh schon. Jetzt auch noch nervös und schlecht gelaunt? Niemals! *augenzuck* Scheissgaul! Hüh!
Vor Udo Jürgens scheint man nie sicher zu sein. Herr Maier hat ihn wohl auch erst in den letzten Jahren für sich entdeckt und vorher eine normale musikalische Sozialisation durchlaufen.
LöschenDer letzte Mohikaner macht das Licht aus. Gut gelaunt, natürlich :)
Und zuallerletzt noch: die Hypothese, dass über 7 Schritte (oder waren es Zwerge?, egal) alles mit allem zusammenhängt, trifft tatsächlich universal zu. Bis auf das Mittelfeldspiel der Eintracht.
AntwortenLöschenHeute. Oder spätestens zu Beginn der Rückrunde wenn Fabian mitmitfeldspielt.
LöschenUnd von Zeit zu Zeit singen Fans zu dem Jürgens-Schlager "Liebe ohne Leiden": Ich wünsch mir Spiele ohne Leiden, und dass die Eintracht heut gewinnt, Und dass wir dann die Kickers schlagen. Und wieder Deutscher Meister sind."
AntwortenLöschenSo schließt sich ein weiterer Kreis.
Schließt sich und fängt immer irgendwo wieder neu an.
AntwortenLöschenBeim Spiel gegen Werder bin ich auf einigen Spielszenenfotos als kleiner rotundschwarzer Fleck erkennbar. Kutschbockhaltung. Das gibt mir zu denken.